Kundenkartei, Bürobetrieb Wäschefabrik Winkel; Foto: Tim Schanetzky, 2004.

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Glossar der Kapitalismuskritik

Glossar der Kapitalismuskritik. Zu einem geschichtswissenschaftlichen Lehrforschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen

von Tim Schanetzky

Das Seminar hatte zwei Ausgangsüberlegungen. Zunächst fällt auf, wie präsent der Kapitalismusbegriff in der politisch-wissenschaftlichen Sprache zuletzt wieder geworden ist. Was die Geschichtsschreibung angeht, hat dies zum einen mit einer Verschiebung des Blickwinkels auf globalgeschichtliche Zusammenhänge zu tun. Mit diesem Interesse an den Formen und Stadien einer globalen Ökonomie und der empirischen Erforschung von Ungleichheit im Maßstab der Imperien erlebte auch der Kapitalismusbegriff eine Renaissance. Diese Entwicklung beschleunigte sich noch mit der globalen Finanzkrise von 2008 und ihren Folgeerscheinungen, wie die Auswertung per Google Ngram Viewer exemplarisch zeigt.

Diagramm zeigt den Anstieg des Begriffs "Kapitalismus" in wissenschaftlichen Veröffentlichungen von 1990 bis 2020, mit deutlich steigendem Trend.

Worthäufigkeit “Capitalism” nach Google Ngram Viewer,

Kapitalismusgeschichte in der Hochschullehre

Spätestens jetzt wurde der Kapitalismus wieder zu einem umkämpften Konzept, das attackiert und für Missstände verantwortlich gemacht oder gerade gegen solche Formen der Kritik in Schutz genommen wurde – auch in der Geschichtsschreibung über den Kapitalismus. Dies war bereits Thema eines Hauptseminars an der Universität Duisburg-Essen im Sommersemester 2024 („Kapitalismusgeschichte schreiben“), an das sich ein weiteres Seminar im Wintersemester 2024/25 anschloss, das den Blick nunmehr auf die Formen und Praktiken der Kapitalismuskritik richtete.

Beide Lehrveranstaltungen waren unabhängig voneinander, wenngleich es einige Teilnehmer gab, die beide Seminare absolvierten. Ausgangspunkt des Lehrforschungsprojekts, und das ist der zweite Punkt, war die Beobachtung, dass studentische Hausarbeiten üblicherweise für sich allein stehen; dass kritisches Feedback bei solchen Prüfungsleistungen nicht in praktische Weiterarbeit am Text mündet und somit das eigenständige wie das gemeinschaftliche Erarbeiten eines Themas häufig zu kurz kommen und schließlich: dass nicht für eine Öffentlichkeit geschrieben wird.

Ausgehend von diesen Gesichtspunkten habe ich der Seminargruppe die Idee eines Lehrforschungsprojekts präsentiert, dessen Offenheit immer herausgestellt wurde: Praktische Erfahrungen gab es damit noch nicht, und die gemeinsame Entwicklung der Vorgehensweise sollte gerade Teil des Lernprozesses sein. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern stand immer frei, ob sie sich am Ende in herkömmlicher Weise (also durch mündliche Prüfung oder eine Hausarbeit) prüfen lassen wollten, während die Mitwirkung am Glossar im Sinne eines Portfolios bewertet wird. In die Anfertigung veröffentlichungsfähiger Beiträge floss – verglichen mit typischen Hausarbeiten – deutlich mehr Zeit- und Arbeitsaufwand. 

Seminarablauf

Die ersten fünf Seminarsitzungen waren zunächst als konventionelle Erarbeitung des Rahmenthemas konzipiert. Sie basierten jeweils auf gemeinsamer Lektüre von fachwissenschaftlichen Texten. Sie dienten dazu, den Kapitalismus-Begriff zu problematisieren, historische Epochen der Kapitalismuskritik zu identifizieren und die Zeitgebundenheit der Kritik zu veranschaulichen. Eine Theoriesitzung widmete sich anhand der klassischen Interpretation von Boltanski/Chiapello der Frage, wieweit es gerade ein systemisches Phänomen des Kapitalismus ist, dass er sich als adaptionsfähig erweist und Aspekte der Kritik immer wieder inkorporiert. Schließlich wurde ausgehend von einer konkreten Quelle und der zu deren Verständnis nötigen Sekundärliteratur beispielhaft erarbeitet, wie eine historisch-empirische Analyse von Praktiken der Kapitalismuskritik konkret vorgehen könne.

An diese Arbeitsphase schlossen sich zwei Sitzungen an, in denen wir die Ordnungsprinzipien der Texte und unsere weitere organisatorische Vorgehensweise gemeinsam erarbeitet haben. Dieser Klärungsprozess begann mit einer Reflexion über die „imaginierten Leser“ des Glossars, die wir uns als „gebildetes Publikum“ vorstellten, das mit Texten anzusprechen sei, die zwar auf dem akademischen Forschungsstand basieren, aber immer auch für Laien zugänglich sein sollten. Daraus folgte ein Verzicht auf genaueste Literaturnachweise und eine Reduzierung auf den Nachweis direkter Zitate per Kurzzitierweise im Text. Auch sollten die Literaturlisten knapp gehalten werden.

Lexikalische Vollständigkeit im Sinne eines Konkurrenzprodukts zur Wikipedia sollte also von vornherein nicht das Ziel sein, sondern die Beiträge verstehen sich als historische Miniaturen und können Ideen und Werke ebenso behandeln wie Akteure oder Praktiken der Kapitalismuskritik. Den Zeitraum legten wir auf die Phase des „modernen Kapitalismus“ (ca. 1810 bis 2000). Weitere Vorfestlegungen: Bei der Verwendung gendergerechter Schreibweisen strebten wir keine Einheitlichkeit an, sondern stellten diese ins individuelle Ermessen. Die Verwendung von KI-Hilfsmitteln kam nur für redaktionelle Arbeiten in Frage. Auch ging es hier darum, ein Problembewusstsein für die juristische Dimension einer Veröffentlichung zu schaffen – für urheberrechtliche wie persönlichkeitsrechtliche Fragen, die üblicherweise zum Bestandteil der Journalistenausbildung zählen, an der Universität aber kaum thematisiert werden (müssen). Die Ergebnisse dieser Diskussion flossen in ein Stylesheet nebst Autorenguidelines ein.

Redaktion und Veröffentlichung

Auf dieser Grundlage präsentierte ich anschließend eine Liste mit Themen- und Literaturvorschlägen, die ich jeweils kurz erläuterte. Sie diente vor allem dazu, praktische Anregungen zu geben. Eine Reihe von Studierenden hat demgegenüber eigene Ideen verfolgt und diese im Rahmen des Glossars auch erfolgreich umgesetzt. Bis zur endgültigen Themenvergabe in der Woche darauf sollte ausreichend Zeit bleiben, um sich mit den Möglichkeiten und Interessen vertraut zu machen. Nach der Themenvergabe war dann eine weitere Woche Zeit für die individuelle Einarbeitung. Die nächste Seminarsitzung entfiel zugunsten individueller Beratungsgespräche, die insgesamt etwa vier Stunden in Anspruch nahmen. Auch in der Woche darauf gab es ein solches Beratungsangebot, um den Schreibprozess zu begleiten und bei Rückfragen Unterstützung (Eingrenzung der Themen, Literaturauswahl) anzubieten. Zum Ende der Weihnachtspause reichten die Studierenden ihre ersten 30 Textentwürfe ein, die ich dann bis zur ersten Feedback-Sitzung am Mittwoch darauf je individuell mit Anmerkungen und Kommentaren versehen habe. Daran schloss sich ein Feedback-Plenum an, und es folgten ein bis zwei weitere Überarbeitungsrunden, in denen am konkreten Textentwurf weitergearbeitet wurde. Bei der zweiten Überarbeitungsrunde wurde ich von Flemming Falz, einem Promovierenden, unterstützt. Er übernahm auch die Umsetzung der ersten Texte für den Webauftritt „Krise der Kritik“.

Erfahrung und Bewertung 

Rückmeldung der Studierenden erhielt ich im Rahmen der anonymisierten Lehrveranstaltungsevaluation, aber auch in vielen persönlichen Gesprächen sowie in der Kommunikation rund um die redaktionelle Bearbeitung, und hier überwiegen die positiven Eindrücke. Immer wieder wurde hervorgehoben, dass besonders das Weiterarbeiten an den einmal eingereichten Texten ein besonderer Gewinn gewesen sei. Nach meinem Eindruck haben viele Kommilitoninnen und Kommilitonen erstmals mit „Änderungen hervorheben“ in Word-Dokumenten gearbeitet. Generell fällt auf, dass die größere Verbindlichkeit enger Zeit- und Terminabsprachen und wohl auch die abschließende Publikation der Ergebnisse motivierend auf viele Studierende wirkten. Das fiel besonders bei solchen Beiträgen auf, die im Zuge der redaktionellen Bearbeitung deutliche Sprünge in der Qualität und in der dahinterstehenden Anstrengung machten.

Ambivalent sind die Erfahrungen hinsichtlich des nötigen Zeit- und Arbeitsaufwandes. Schon bei der ersten Vorstellung der Seminaridee hatte ich meine Erwartung geschildert, dass sich aus dem Ziel publikationsreifer Texte ein deutlicher Mehraufwand gegenüber regulären Hausarbeiten ergeben werde. Dies hat sich in der Praxis genauso bestätigt, wurde aber nicht immer positiv vermerkt. Dass bereits während des laufenden Semesterbetriebes und auch während der Vorlesungsunterbrechung über Weihnachten und Silvester an den Beiträgen gearbeitet werden musste, wurde mitunter als unglücklich empfunden.

Aber auch auf der Seite des Lehrenden nahmen die Beratungs- und Betreuungstätigkeit, das Feedback auf die Textentwürfe und deren redaktionelle Überarbeitung sowie die Umsetzung auf der Projekthomepage deutlich mehr Zeit in Anspruch als üblicherweise für wöchentliche Seminarsitzungen und abschließend für die Korrektur und Bewertung von Hausarbeiten anzusetzen gewesen wäre – trotz der Unterstützung durch einen Doktoranden, der in einer der Redaktionsrunden einen Teil der Beiträge kommentierte und der auch die Lösung für die Darstellung auf der Projekthomepage entwickelte. Überlegungen, solche Projektformate häufiger anzubieten, müssten also immer auch bei solchen Umsetzungsschwierigkeiten ansetzen.

Trotz solcher Schwierigkeiten überwiegen aus meiner Sicht bei weitem die positiven Eindrücke. Das kann nach dem vollständigen Abschluss der Notenverbuchung (was für sich genommen bereits ein Erfolg ist, da in konventionellen Veranstaltungen nicht wenige Hausarbeiten erst lange nach der Veranstaltung eingereicht werden) auch quantitativ untermauert werden: In der Veranstaltung waren 50 Teilnehmende angemeldet und zur ersten Sitzung erschienen. Im Verlauf des Lehrforschungsprojekts hatten Studierende dann zwar immer wieder Unsicherheit in der Frage zum Ausdruck gebracht, wie so ein Format in die Logik der Prüfungsordnungen und der Noten-Vergabe einzupassen sei. Das Ergebnis spricht aber für sich, wenn am Ende eine Quote von 37 verbuchten Noten zu beobachten ist (darunter kein „nicht bestanden“, 34 Noten im Zusammenhang mit Glossarbeiträgen sowie zwei mündliche Prüfungen und eine reguläre Hausarbeit). Nach meiner Erfahrung geht in konventionellen Seminaren im Laufe des Semesters und der Prüfungszeiträume jedenfalls ein weit größerer Anteil an Studierenden „verloren“.

Die Möglichkeit dazu, je individuell zu einem solchen Gesamtprojekt beizutragen und während des Studiums zu einer Veröffentlichung zu gelangen, hat die Studierenden besonders motiviert. Dass die Reichweite einer Online-Veröffentlichung gar nicht so gering ist (jedenfalls verglichen mit den Auflagenhöhen im Dissertationsdruck) sieht man an der Zugriffsstatistik. Das „Glossar der Kapitalismuskritik“ generierte binnen sechs Monaten insgesamt knapp 6000 Seitenzugriffe durch 1400 unterschiedliche Besucherinnen und Besucher, seit im Februar 2025 die ersten drei Einträge online gingen.